Andreas Schmid
, 2012
Reinhard Ermen, Kunstforum 2012, Band 215, Zeichnen zur Zeit V

Die Linie definiert, sie rhythmisiert, ja sie baut den Raum, im Weiß des Papiers, wo sie die dritte Dimension eröffnet, genauso wie im Raum, der schon da ist; man denke an die Kanten des Kubus, an Flüsse, Bäume und Horizonte. Und dann kommt einer und setzt seine Linien in den Raum, als sei das ein Blatt Papier, er baut weiter, er setzt Kontrapunkte, stellt Fragen. Das ist Andreas Schmid, der (fast) immer als Zeichner handelt, auch da, wo er wie ein Bildhauer öffentlich Räume bespielt. weiterlesen ...
Nun sind Decken, Böden und Wände in der Regel flach wie ein Karton, durch Höhe x Breite x Tiefe berechnet sich das konventionelle Volumen, durch das Setzen farbiger Linien, kommt eine neue Dimension zustande, die im Installationsfoto wieder eingeebnet wird und trotzdem Dreidimensionalität abbildet wie ein Gemälde oder eine Zeichnung. Kennzeichen der eben apostrophierten neuen Dimensionalität sind vorsichtige Andeutungen von Ausblicken, die durch sanft ansteigende Linienbänder möglich werden, es geht um ein horizontales Ausschreiten, nur selten synkopiert eine Senkrechte das Gefüge. Aber wo die Vertikalen herrschen, richten sich auch die Lineaturen vom Andres Schmid entsprechend ein. Die Räume schwingen aus im übertragenen Sinne, dabei sind sie doch einfach nur durch einen minimalistischen, besser: konzentrierten Eingriff berührt worden, der die bestehende Architektur nicht beschädigt, obwohl er sie gleichzeitig entschieden auszuhebeln vermag. Manchmal spannt Andreas Schmid seine Linien auch in Form kräftiger Seile auf. Für Renate Wiehager entstehen so „transitive Orte, als Orte des Übergangs zwischen Außen- und Innenwahrnehmung“. Das Gegebene und das dahinein Gesetzte treten in einen Dialog. Genauso geschieht es in den klassischen Zeichnungen, die so klassisch gar nicht sind. Unübersehbar ist eine Vorliebe für Querformate, gelegentlich bis ins Extrem. Die Linien wandern auf und absteigend, sanfte Berührungen nicht ausgeschlossen, Farben wachsen ausgesprochen diskret, blühen unter einen Abklebeband blass weiter. Nichts drängt sich auf, selbst wenn der Zeichner mit Schnitten arbeitet, das Blatt erscheint dann schon mal wie ein platt gedrücktes Modell, oft genug auch wie ein Entwurf. Die Bildräume erscheinen flach und unendlich zugleich.

Ein kontemplativer Zug geht durch diese Arbeit, der auf Anhieb nicht so leicht zu verbalisieren ist. Der Blick auf die Biographie von Andreas Schmid hilft das ein wenig zu erklären. Nach dem Studium an der Stuttgarter Akademie hat er von 1983 bis 86 drei Jahre in der Volksrepublik China studiert, davon zwei Jahre Kalligraphie in Hangzhou. Dieser „Umweg über China“, um es mit einem Schlagwort von Francois Jullien zu sagen, hat ein latent bereits vorhandenes Gefühl für Leere und Linearität bestätigt und einer unverwechselbaren Dispositionskraft zugeführt, die wiederum mit zentraleuropäischem Abstraktionsbewusstsein zusammenkommt. Chinesisch daran ist möglicherweise der geradezu ökonomische Umgang mit dem formalen Vokabular; nur das Notwendigste darf sein, im Abstand, in der dazwischen liegenden Leere formuliert sich das Eigentliche. Und: „Flachheit ist Fülle“, um nochmals Jullien, den französischen Sinologen und Philosophen zu bemühen. Wo ein Raum gesetzt ist, drängt er sich nicht auf. Das gerade Notwendige belehrt alle Ansprüche auf das Sensationelle. Andreas Schmid arbeitet nicht mit Effekten, jeder Zug hat seinen (gefühlten) Platz, eine falsch gesetzte Linie, und schon fällt das Ganze auseinander. Die klassische Kalligraphie bewahrt er sich daneben als eigenständige Kunstausübung. Der China-Spezialist betätigt sich als Kurator und Vermittler.
Der Zeichner arbeitet auch mit Licht im Raum. Jede der dabei verwendeten, graziösen Leuchtstoffröhren ist ein Strich, ist Teil einer weitmaschigen Schraffur. Manchmal ist das Kabel die notwendige Fortsetzung der Lichtlinie, so gesehen in einer temporären Außeninstallation an der Burg Bederkesa: „Shift“. Die Farben spielen mit, diese Raumzeichnungen leben, Andreas Schmid komponiert für sie ein Computer-Programm. 2002 im Haus Huth von Mercedes Benz am Potsdamer Platz in Berlin kommen 16 Takte (Isabel Mundry) und 16 Leuchtstoffröhren (Andreas Schmid) in der „Partitur für DCC“ zusammen. Für die 450 m² der durchaus komplizierten Deckenlandschaft im Kunstmuseum Stuttgart hat er 167 schlanke Doppelleuchtstoffrören erdacht. „Treibholz“ (2005) ist eine überdimensionale Zeichnung aus weißem Licht, hoch über den Köpfen der Betrachter. Die Besucherströme und ihre möglichen Bewegungsrichtungen, das Kommen und Gehen ist mitgedacht. Auch für diese hellen Linienwege hat er eine Partitur programmiert. Das Licht wechselt, man braucht nur wenige Minuten nach oben zu schauen. Wie an einem wolkig bis heiteren Sommertag ist die Arbeit in Bewegung und tut doch ihren Dienst, das Foyer zu beleuchten. Die Zeichnung atmet.
Andreas Schmid (*1955 Deutschland) lebt und arbeitet in Berlin“
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Orte
, 2007
Auszüge aus: Renate Wiehager, Raumenergien,
Text zur Einzelausstellung Andreas Schmid: „Orte“- Installationen, Fotografien, Zeichnungen, Haus am Lützowplatz, Berlin, 30.03. – 13.05.2007

Andreas Schmid geht in seiner Werkauffassung und künstlerischen Praxis von den Konstanten zeichnerischen und räumlichen Denkens aus – Punkt, Linie, Fläche, Raum – und verbindet diese in einem ebenso überraschenden wie konzeptionell bezwingenden Brückenschlag mit den politischen, kulturellen und sozialen Qualitäten räumlicher Orientierung. weiterlesen ...
Dies ist Grundbedingung und notwendiger Impuls für das weitgespannte Arbeitsfeld des Künstlers: Zeichnung, Fotografie, Raumzeichnung, zeichnerische und performative Konstellationen im Raum mit Übergängen zu Installation und Theater, Interventionen im öffentlichen Raum, Lehrveranstaltungen, Praxis als Kurator und Autor.
Andreas Schmids künstlerische Arbeit gestaltet sich hauptsächlich situativ und temporär. Er bearbeitet vorhandene Räume als transitive Orte, als Orte des Übergangs zwischen Außen- und Innenwahrnehmung, die sich mit der Bewegung des Betrachters im Raum entfalten. Schmids Arbeit kann als performativ bezeichnet werden, da sie auf Möglichkeiten abzielt, nicht nur die gegebenen architektonischen Strukturen zu beschreiben, sondern die dahinter verborgenen und dennoch latent vorhandenen Räume sichtbar zu machen. Für deren Interpretation, oder wie Schmid es nennt, deren „Verstärkung“, arbeitet er vor allem mit Linien, die ausgespannt oder geklebt, gezeichnet, gemalt, geschnitten oder gelegt werden. Der Künstler verleiht damit den zeichnerisch bearbeiteten Räumen – jenseits ihrer Funktionalität als Foyer, Passage oder öffentlichem Platz bzw. ihrer Dysfunktionalität als Industriebrache – einen autonomen, energetisch aktiven Zustand.
Aus seiner Beschäftigung mit zeitgenössischer Musik her¬aus hat Andreas Schmid vor einigen Jahren begonnen, Licht-Linien-Partituren zu entwickeln. Das rhythmisch pulsierende, ephemere Bild der Lichtlinien verbindet sich in der Vorstellung des Betrachters mit den im Raum ausgespannten, geklebten und gezeichneten Linien und findet ein Echo in der federnd bewegten Liniatur der vierteiligen „Raumkonstruktion“.
Die Thematik der „Lagen“ als räumliche Schichten wie auch als Schichten von Bedeutungszuweisungen, oder im Sinne von Zuständen, Umständen, Beschaffenheiten hat Andreas Schmid in den vergangenen Jahren parallel zu seinen Rauminstallationen immer auch im Medium der Zeichnung reflektiert….
Dass es aber Andreas Schmid nie ausschließlich um einen ästhetisch hochgespannten Formalismus in der Nachfolge etwa eines Fred Sandback geht, sondern seine zeichnerisch-plastischen Argumentationen ihre Verankerung und Begründung in einer zugleich melancholisch stimmenden wie zu offenem Widerspruch anstiftenden Analyse unserer Lebenswelt haben – das ist in vielen öffentlichen Arbeiten des Künstlers seit etwa 1990 deutlich geworden. Etwa in einer in situ Arbeit für den Tübinger Hölderlinturm 1995, wo der Künstler die verschiedenen medialen Ebenen – Textzitate, Wandzeichnung, Raumverspannungen innen und außen – so zusammengeführt hatte, dass dieZerrissenheit des Menschen Hölderlin, die auch die Zerrissenheit unserer Epoche ist, für den Betrachter physisch und geistig nachvollziehbar wurde. „Gelbes Echo“ war 1995 der Titel eines zeichnerischen Eingriffs mit 30 Meter langen Schnüren im Wald von Tsukui/Japan. Im gleichen Jahr entstand in Berlin die Arbeit „Wüste fegen“, welche, auf einer vom Künstler glatt gefegten Fläche von 2100 Quadratmeter, mit schmalen Gräben und Seilen eine strenge Kalligraphie, einen geistig bestimmten Ort inmitten eines verwüsteten Ödlands entstehen ließ…
Auch bei den Fotografien des Künstlers sind die „Passagen“, die „Lagen“ und Schichtungen im Raum zu übersetzen im Sinne einer Reflexion der Erfahrung von Transparenz und Transzendenz als konstituierendes geistiges Vermögen des Menschen. Thomas Bernhard hat in einem seiner absurdesten und ergreifendsten Bücher, in „Gehen“, der Figur Oehler folgende Formulierung in den Mund gelegt: „Die Welt ist uns plötzlich keine vollkommene aus Schichten von Finsternis, sondern vollkommen in Schichten von Klarheit.“
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Linien aus Licht - Die Wüste leuchtet
, 2007
Jens Hinrichsen, Tagesspiegel, Linien aus Licht- Die Wüste leuchtet,
zur Einzelausstellung Andreas Schmid: „Orte“- Installationen, Fotografien, Zeichnungen, Haus am Lützowplatz, Berlin, 30.03. – 13.05.2007

Gute Zeichnungen bannen den Blick. Aus manchen Skizzen von Andreas Schmid findet man schwer heraus, dabei sind sie Nebenprodukte des umtriebigen 51-jährigen Künstlers; das Haus am Lützowplatz zeigt sie als Appendix in der Studiogalerie: Zeichnungen als zittrig getuschte Kalligrafien, als kleine Breitwandpanoramen mit Horizonten aus Tesakrepp. Oder Linien, die einfach nur Rasiermesserschlitze auf weißem Papier sind. Die Kunst der Linie: ein unabsehbar weites Feld. weiterlesen ...
Die Hauptattraktion aber ist Schmids Installation in den Vorderräumen des Gründerzeithauses, das seit 1963 ein Ort der zeitgenössischen Kunst ist. Internationale Stars wie Warhol, Dubuffet oder Barnett Newman waren hier zu Gast. Seit den Neunzigerjahren bietet der Trägerverein vor allem jungen oder nur lokal bekannten Künstlern die in Berlin rar gewordene Möglichkeit einer Einzelausstellung. Andreas Schmid tut hier etwas Ungewohntes: ausgehend von einem intuitiv erlebten „Grundklang“ des Ortes präsentiert er vor allem den Ausstellungsraum selbst. Seine Eingriffe jedenfalls bleiben verhalten: „Ich will nicht irgendwas mit Gewalt in den Raum ´reinknallen,“ erklärt Schmid. Er bringt die Innenarchitektur, an der ihn „das Verschachtelte“ gereizt hat, nur ein wenig aus dem rechtwinkligen Fassung, verdreht mit einer Extra-Wand das Raumgefüge oder lässt den hintersten Raum aus dem Lot kippen, indem er die Wände (ergo: die Tapete) illusionistisch auf den Boden „herabzieht“. Und die Geraden, die Schmid mit Klebeband oder Farbe, an Boden und Wand, durch den Raumverbund zieht, spotten ebenso dem rechten Winkel, bilden Ariadnefäden, die scheinbar Mauern durchschneiden, den Betrachter um Ecken locken. Dort erwartet ihn wieder ein neues Schmid´sches Raumerlebnis. Um die Ecke denken, durch Wände gehen: Mit einfachen Mitteln entgrenzt Andreas Schmid die Räumlichkeiten am Lützowplatz. Für Momente scheint der Ort physisch transparent zu werden. Das Wechselspiel zwischen Innen und Außen zeigt sich am deutlichsten tagsüber, wenn sich das Außenlicht und eine in sanftem Rhythmus pulsierende Installation von weißen und rosa Neonröhren zu einer Lichtsinfonie vereinigen. In der Staatsgalerie Stuttgart hat der gebürtige Schwabe Schmid 2005 eine ähnliche Neon-Arbeit realisiert („Treibholz“), die noch in diesem Jahr den szenischen Rahmen für ein Streichquartett von Helmut Lachenmann geben soll. „Mich fasziniert die räumliche Qualität zeitgenössischer Musik“, sagt Schmid, der Gesamtkunstwerker.
In der Skulptur haben ihn „Light Artists“ wie James Turrell und der Neon- Pionier Dan Flavin beeinflusst (der den Begriff „Installation“ übrigens 1967 einführte). Die Formensprache des Minimalisten Donald Judd (1928-1994) habe er erst wirklich begriffen, als er 2000 „Artist in Residence“ an dessen texanischer Kunst-Ranch war. Noch prägender waren die Lehrjahre in China, obwohl man Schmids Nähe zu ostasiatischer Schreibkunst nur mit Mühe aus den „Zeichnungen“ mit Neon, Klebeband und Farbstreifen im Raum herauslesen kann. Die einzige Kalligraphie in der Ausstellung ist ausgerechnet eine fotografierte Erosionsspur in einer chinesischen Steinwüste – die als Fototapete in die Installation integriert ist. „Taklamakan“ heißt die Einöde. Zu deutsch: „Einer der hineingeht und nicht mehr herauskommt“.
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Der Siegeszug der chinesischen Fotografie
, 2005
erschienen in: European Photography, No. 76, Winter 2004/2005, S.3-5

Wer Anfang Februar 1989 in die Volksrepublik China kam und sich einen Überblick über die Lage der chinesischen zeitgenössischen Kunst verschaffen wollte, bekam in der Ausstellung China Avantgarde die Fülle der seit Beginn der Öffnung der frühen 80er Jahre unter dem Begriff “Neue Welle” (“Xin Chao”) entstandenen Malereien, Installationen und konzeptuellen Arbeiten zu sehen. weiterlesen ...
In nur einem Jahrzehnt hatten chinesische Künstler sich ein ganzes Jahrhundert an westlicher Kunst im Schnelldurchgang einverleibt (inklusive mancher theoretischer und philosophischer Texte) und für ihre eigene Arbeit neue Zugänge und Medien erschlossen und gegen große Widerstände seitens der Kulturbürokratie erprobt worden. Künstlerische Aktionen und Performances waren ebenfalls eingeführt. Fotografie und Video als Medien hingegen führten noch ein Schattendasein.
Die Gründe hierfür sind vielfältig: Die allermeisten Künstler waren arm; Kameras jedoch sehr teuer. An ein eigenes Videoequipment war Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre erst gar nicht zu denken. Das Filmmaterial aus eigener Produktion entsprach weitgehend nicht den eigenen Qualitätsanforderungen (besonders für Farbaufnahmen). Ausländische Qualitätsmaterialien waren jedoch ebenfalls noch unerschwinglich. Kontakte ins Ausland bildeten noch die Ausnahme. Einen eigenen Markt, abgesehen von vereinzelten Galerieversuchen gab es noch nicht.
Zudem wurde die Fotografie in den 80er Jahren nur von wenigen als künstlerisches Medium wahrgenommen. Fotografie war Spezialisten- und Journalistensache. Die Hochschulen, an denen Fotografie gelehrt wurde, konnte man an einer Hand abzählen. Allerdings wurden in den 80er Jahren nach und nach Werke von Fotografen wie Cartier-Bresson, Robert Frank und Ansel Adams durch Ausstellungen und Materialien bekannt.
Die wenigen, die sich mit der Fotografie beschäftigten, versuchten nach den Jahren der Propagandafotos die “wahre Realität”, meist noch ohne künstlerische Ansprüche einzufangen. Kurze Ausflüge in die Abstraktion waren erfolg- und folgenlos. Bis zum Anfang der 90er Jahre blieb so der Fokus der meisten Künstlerinnen und Künstler in der eigenen Tätigkeit vornehmlich auf andere Medien wie die Malerei oder Installation gerichtet.
Trotzdem gab es Ansätze: 1988 hatte der Maler Zhang Peili (1957*) als erster begonnen, freie künstlerische Videos zu drehen. Deren Vorführungen blieben jedoch zunächst auf den Bereich der Kunstakademie in Hangzhou beschränkt.
Was die Fotografie betrifft, so brachten einige wenige chinesische Fotografen wie Mo Yi, Lu Yuanmin, Gu Zheng, Lu Nan und Zhang Haier in der 2. Hälfte der 80er Jahre als erste ihre individuellen Auffassungen in ihre Schwarzweiß-Dokumentarfotografien ein: Zhang Haier begann Ende der 80er Jahre mit den ersten eigenständigen Reportagezyklen über die aufkommende Prostitution in Kanton (Guangzhou) unter dem ironischen Titel "Die bösen Mädchen", in die er seine Gefühle wie auch seine eigene Konzeption künstlerisch expressiv einbrachte. Lu Nan beeindruckte mit intensiven Fotoserien über Randgruppen in der Volksrepublik China (zum Beispiel Katholiken in China oder psychisch Kranke). Mit dieser Art der Fotografie wurde Ende der 80er Jahre die Wende von der reinen Reportagefotografie zur individuellen konzeptuellen Fotografie vollzogen. Alle genannten Fotografen hatten allerdings große Schwierigkeiten, diese Art von Themen und ihre künstlerische Auffassung in der Volksrepublik China zu präsentieren. Noch 1994 etwa mußten die Arbeiten Lu Nans zu katholischen Minderheiten in der Volksrepublik China im Hong Kong Arts Centre auf Druck Pekings abgehängt werden.
Seit Mitte der 90er Jahre ist jedoch eine zunehmende Liberalisierung im Kunstbetrieb festzustellen. Heute kann – abgesehen von Arbeiten mit eindeutig staatsfeindlichem oder pornografischem Inhalt – nahezu die gesamte Bandbreite der künstlerischen Ausdrucksformen in den großen Städten ohne Probleme produziert werden.
Die Vorgänge auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Juni 1989 und die darauffolgenden Repressionen bildeten eine gewaltige Zäsur. Bedeutende Künstler, Publizisten und Kuratoren verließen die Volksrepublik China. Der Abschnitt der “Neuen Welle” war zu Ende. Die Repressionen gegen Künstler, Verlage, Liberale und Intellektuelle hielten bis zum Ende des Jahres 1991 an. Erst 1991/92 tauchten die Künstler wieder aus der Versenkung auf, sofern sie nicht ins Ausland gegangen waren. Daneben trat jedoch auch eine neue Künstlergeneration auf den Plan, die sich mit einer rasant zunehmenden Beschleunigung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen konfrontiert sah. Eine Fülle neuer Themen und eine stark zunehmende Individualisierung waren die Folge. Fast gleichzeitig setzte das massive Interesse von Galerien und Kunstinteressierten aus dem Ausland, vornehmlich aus Europa, den USA, sowie Asien und Australien an der chinesischen zeitgenössischen Kunst in einer nicht vorhersehbaren Intensität ein, die den Startschuß für eine rege, sich ständig steigernde (Ausstellungs-) Aktivität chinesischer Künstlerinnen und Künstler im Ausland gab. Das ursprüngliche Interesse von Galerien und Museen galt zunächst der Kunst der 80er Jahre, wurde jedoch sehr schnell auf die aktuelle Kunstproduktion erweitert. Die ersten großen internationalen Ausstellungen führten zu einem schnelle Anstieg des gegenseitigen Erfahrungs- und Informationsaustausches. Chinesische Künstler wurden durch Förderungen und Verkäufe im Ausland zunehmend in die Lage versetzt, sich eine gute Ausrüstung leisten zu können. Nebenbei verbesserte sich die eigene Infrastruktur seit Anfang der 90er Jahre bezüglich Material, erschwinglichen guten Kameras und Labors grundlegend. Eine Galerienlandschaft begann sich in Beijing und Shanghai aufzubauen. Durch die Zuzugserlaubnis entwickelte sich Beijing schnell zum Schmelztiegel verschiedenster künstlerischer Auffassungen aus allen Regionen des Landes und zieht seither als Zentrum künstlerischer Produktion viele Künstler an.
Die Unbefangenheit und die (schon klassische) Fähigkeit chinesischer Künstler, Fremdes ganz selbstverständlich in die eigene Arbeit zu integrieren, erleichtert generell die Benutzung unterschiedlicher neuer künstlerischer Medien. Mit den immensen Veränderungen besonders der chinesischen Großstädte, dem ständigen Abriß und Neuaufbau, den Umsiedlungen und Migrationsflüssen und dem damit verbundenen Wandel in der chinesischen Gesellschaft stürzen immer neue “Wirklichkeiten” auf die Menschen ein, die mit Medien wie Fotografie und Video besonders schnell zu erfassen sind und daher für viele Künstler attraktiv werden. Nebenbei lassen sich die Ergebnisse vielfältig reproduzieren, gut und kostengünstig transportieren und mehrfach verkaufen, bis heute weitgehend an eine ausländische Käuferschicht.
Damit begann der eigentliche Aufstieg des Mediums Fotografie in China Mitte der 90er Jahre, der bis heute anhält. Heute ist die Fotografie das führende Medium in den großen Städten, vor allem im Osten und Süden. Gerade die jüngeren Generationen wissen die neuen Medien gut zu nutzen; seit wenigen Jahren gibt es auch Lehrstühle für Neue Medien an chinesischen Hochschulen, die von der Administration teilweise sehr gut ausgestattet werden (zum Beispiel an der Chinesischen Akademie der Bildenden Künste in Hangzhou, an der gleich mehrere international bekannte jüngere chinesische Künstlerinnen und Künstler arbeiten und die über ein Equipment sowie Mittel verfügt, über das eine deutsche Kunsthochschule froh wäre).
Anfang der 90er Jahre beginnen einige Künstler, mit der Fotografie konzeptionell zu arbeiten und sie auch in ihre anderen Arbeiten als Teil zu integrieren (Geng Jianyi, Liu Anping 196, Wang Youshen, 1964*, Gu Dexin, 196, Qiu Zhijie, 1969*). Sie bleiben jedoch in der Minderheit.
Inhaltlich werden ab 1993/94 mehrere Tabuthemen angegangen. Dazu zählen Nacktheit, Erotik, Gewalt sowie der (eigene) Körper. Dieser wird zunächst in realen Performances von Zhang Huan (1963*) und Ma Liuming (1969*) die sich mit anderen zu einer Künstlerkommune im Osten Pekings (Ostdorf/dongcun) zusammengeschlossen hatten, provokant eingesetzt. Ihre inoffiziellen, oft nur von wenigen Insidern besuchten Aktionen werden aus Gründen der Dokumentation und der internationalen Verbreitung ausführlich fotografisch festgehalten. Einige Fotografen, wie Xing Danwen (1967*) oder Lu Zhirong, genannt Rong Rong (1969*) erreichen mit ihren Dokumentarfotos eine neue ästhetische Qualität. Ihre Fotografien erhalten damit den Status autonomer Werke. Verschiedene Künstler, zumeist in anderen Sparten wie zum Beispiel der Malerei oder der Grafik ausgebildet, beginnen, mit der Fotografie als Medium zu arbeiten. Verbunden ist diese Auseinandersetzung mit dem Verhältnis der eigenen Individualität zur chinesischen Gesellschaft, die zum grundlegenden Leitthema chinesischer Gegenwartskunst wird.
Es entstehen zunehmend Inszenierungen des Selbst mit dem Medium der inszenierten Fotografie. Zhao Shaoruo wird durch Kopfmontage zu Mao, An Hong geriert sich 1996 in mittleren Formaten provokant als tibetische Gottheit, Ma Liuming als androgyne chinesische Schönheit; zu ihrer Entstehungszeit (1994/1996) alle auf ihre Weise eine Provokation. Chen Lingyangs‘ spekulative Erotik sowie Cang Xins‘ Pathos entsprechen dagegen der Affirmation der letzten Jahre.
Das Verhältnis zwischen dem eigenen Selbst und der sich explosiv verändernden chinesischen Gesellschaft mit politischen Aspekten wurde Mitte der 90er Jahre ebenfalls neu ausgeleuchtet Xing Danwen (1967*) fotografiert Menschen, die während der Kulturrevolution geboren sind, Wang Jinsong (1960*) widmet sich der Ein-Kind-Familien sowie Eltern unterschiedlicher Milieus. Yang Zhenzhong (1968*) bearbeitet das gleiche Thema unter anderem sehr ironisch am Computer: Die Protagonisten sind Hühner. Zhuang Hui (1963*) gelingt 1997 mit den konzeptuellen Schwarzweiß-Fotografien kompletter Arbeitseinheiten (Danweis) ein treffendes Zeugnis der inneren Veränderung und Erodierung dieser ehemals so stabilen Gesellschaftssäulen. Liu Zheng (1969*) erreicht Sandersche Qualitäten in seiner großen mehrjährigen Arbeit "My Countrymen" (1995–2000), in denen sich die großen sozialen Unterschiede innerhalb der chinesischen Gesellschaft und die Schere zwischen arm und reich spiegelt. Song Yongpings (1961*) sehr intime Folge über den elterlichen gesundheitlichen Verfall bleibt ein Einzelfall in der Behandlung der “Alten”.
Die Konfrontation mit der Geschwindigkeit des Wandels setzt bei einigen Künstlern auch Erinnerungen an die eigene Familiengeschichte frei: So gibt es nicht wenige Künstler, die mittels gesammelter oder recherchierter Fotos und deren Kombination die eigenen Familiengeschichte aufarbeiten: Feng Mengbo am Computer, Wang Youshen in Installationen. Hai Bo stellt Fotos aus dem Familienalbum neue Aufnahmen mit derselben Anordnung gegenüber. Die Zeit, die Erinnerung und die Vergänglichkeit werden Thema.
Die jüngere Generation arbeitet entweder ironisch oder affirmativ.: mit kritischer Ironie inszeniert der Südchinese Zheng Guogu mit gestellten Szenen das Thema des Wertewandels bei einer Jugend in der neuen Konsumgesellschaft. Für die Serie “Verhalten der Jugend in Yangjiang” engagiert er Freunde und Bekannte, die sich Spiel und aggressivem Ernst bewegen. Yang Yongs‘ “Cruel Diary of Youth", 2002–2003 von jungen Mädchen,in Shenzhen während ihrer Freizeit aufgenommen zeigt sie gelangweilt und langweilig wie Werbeträger für Mode - oder Konsumartikel.
Auseinandersetzungen mit den verschiedenartigen Verlockungen der Konsumindustrie und der Werbewelten in der neuen chinesischen Gesellschaft bilden weitere Themen, die von Künstlern wie Hong Hao “Mr. Gnoh” (rein digital) und Zhao Bandi “My Panda and me” ironisch - humoristisch, von Xing Danwen “Urban Fiction, 2003, kritisch, teilweise digital oft in großen Formaten bearbeitet werden. Zhao Bandi nimmt sich humorvoll aktueller Themen wie SARS und Aids an, die er in Gestalt von großen Fotocomics umsetzt.
Mit den Veränderungen der Städte selbst und ihren Erinnerungen arbeiten Yin Xiuzhen (und Zhan Wang. Es entstehen “Erinnerungsfotos” von zerstörten Stadtteilen oder Überresten, mit denen die Künstler dann arbeiten. Chen Shaoxiong schafft mit ausgeschnittenen Bestandteilen von Stadtfotos, die vor den realen Hintergründen erneut aufgenommen werden eine doppelte irritierende Realität.
Mit der zunehmenden Schnelligkeit des Lebens in der chinesischen Großstadt tritt Ende der 90er Jahre eine Gegenreaktion in Form einer neuen, teilweise nostalgischen Hinwendung zur Vergangenheit auf den Plan, die sich in Übermalungen oder digitalen Veränderungen von klassischen Kunstmotiven (etwa Songmalereien, berühmte Gruppen von Denkmalen) beziehungsweise berühmten Architektur-und Landschaftskulissen (z.B. Tian Anmen-Platz, Sommerpalast u.a.) widerspiegelt. (Hong Hao, Zhao Bandi, Han Lei, Hong Lei, Zhong Xiaoyu, Miao Xiaochun).
So greift Wang Qingsong in seinem großen Fototableau Night Revel of Lao Li, 2000, in Form einer übergroßen klassischen Querrolle (102 x 980 cm) mit aneinandergereihten Szenenfolgen wie auch in der Anordnung der Figuren (Gegenüberstellung klassisch Gewandeter und Personen aus der Kunstwelt in heutigem Outfit und sparsam eingesetzten Accessoires der heutigen Konsumgesellschaft) auf einen Klassiker der chinesischen Malerei (Night Revel of Han Xizhai, 9. Jahrhundert von Gu Hongzhong) zurück. Der Künstler inszenierte außerdem mit Schauspielern im Rückgriff auf Heldendenkmale der Mao-Ära ironisch neue Denkmale der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; letztere zeigt den Künstler inmitten einer Gruppe von Mitstreitern, die sich dem Betrachter zuwenden. Alle Beteiligten sind “vergoldet”, mit kulturrevolutionärem Pathos in den Gesten, jedoch gebrochen von den Accessoires.
Liu Zhengs ebenfalls überdimensionale, nahezu barocke Inszenierungen klassischer literarischer Theaterstoffe wie die Four Beauties, 2004, gehen in die gleiche Richtung einer neuen, leicht maroden, degenerierten Schönheit.
Die chinesische Landschaft – in den 80er Jahren als Thema völlig außen vor – rückt seit wenigen Jahren als Thema der Alternative, der “anderen” Realität und einer anderen Hoffnung ins Blickfeld. Eine Art von skeptischer Romantik macht sich breit, die Fragen nach der Zukunft stellt und sie mit zweifelndem Blick offen läßt: Die Familie und die Figuren Weng Fens drehen dem Betrachter den Rücken zu; sie schauen aufs Meer. Die Mädchen auf der Mauer in Weng Fens unbearbeiteten Fotografien blicken auf die neuen chinesischen Megastädte, die Szenerie wirkt wie künstlich am Computer collagiert und ist doch Realität der Wirtschaftsboomtowns.
Die Themenvielfalt und die starke Zunahme großer, ästhetisch perfekt inszenierter und digital bearbeiteter Fotografien, die sich (oft allzu) mühelos in den internationalen Kontext einordnen, ist kennzeichnend für die ersten Jahre des neuen Jahrtausends. Der Sog der Fotografie im Land ist so groß. daß sich andere Künstler, deren Schwerpunkt auf ganz anderen Feldern liegt, derzeit leicht anstecken lassen, wohl um davon wirtschaftlich zu profitieren. Die Ergebnisse sind künstlerisch oft nicht überzeugend.
Bei der Themenvielfalt verwundert es, daß die immer offener zutage tretenden Problemfelder der chinesischen Gesellschaft, wie die ökologischen Verhältnisse, die Arbeitsbedingungen, Arbeitslosigkeit, die generelle Schere Stadt – Land oder auch die Kunstproduktion Große – Städte / Rest des Landes noch nicht bearbeitet werden oder wurden. Auch mit dem Medium der Fotografie selbst wird überwiegend unkritisch umgegangen, das heißt es wird selbst kaum zum Thema gemacht.
Seit 1997 werden chinesische Fotografen mit wachsender Tendenz auch im Westen in Galerien und Ausstellungshäusern* gezeigt und auf Kunstmessen gehandelt. Zur Zeit läßt sich von einem ausgesprochenen Hype der chinesischen Fotografie sprechen. Man traut ihr zu, daß man als ausländischer Betrachter besonders viel Authentisches über die derzeitige Realität in China erfahren kann, mehr als durch andere künstlerische Medien (Ausnahme: Video). Allein 2004 sind gleich mehrere Katalogbücher* erschienen, die reine Fotoausstellungen dokumentieren. Dabei bildet der Ausstellungskatalog Past – Future des Smart Museums of Art/Chicago ein weitgehend vollständiges Kompendium der zeitgenössischen chinesischen Fotografie. Ein Problem ist jedoch, daß in dem gegenwärtigen Boom jede Bewegung, jede Arbeit chinesischer Künstler von Kuratoren und Kunstgeschichtlern sofort nach Erscheinen ohne Abstand zu schnell eingeordnet und verwertet wird. Damit ist die Gefahr groß, daß die chinesische Kunstgeschichte von Produzenten wie von Rezipienten strategisch vorgeplant und manipuliert wird. Etwas Abstand würde der chinesischen Fotografie zur Zeit gut tun.
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Präzision und Offenheit
, 2001
Aus “Präzision und Offenheit- Mit Räumen zeichnen,” /#Minimal/Concept:
Zeichenhafte Sprachen im Raum#/
von Christian Schneegass-Amsterdam; Dresden: Verlag der Kunst, 2001, S.87 - 94

Mit Räumen zeichnen weiterlesen ...

Andreas Schmid über seine künstlerische Herangehensweise:
Ich verstehe meine Gedanken zum Thema »Präzision und Offenheit – mit Räumen zeichnen« als einen Diskussionsbeitrag zur Erörterung des aktuellen Zeichenbegriffs. Meine Ausführungen mache ich als Künstler, der sich seit längerer Zeit mit dem Begriff der Zeichnung und ihrer Ausdehnung in den Raum auseinandersetzt. Für mich spielt in diesem Zusammenhang der Begriff des »zeichnerischen Denkens« eine wichtige Rolle. Arbeiten, die in diesem Zusammenhang entstehen, unterscheiden sich von denjenigen aus Welten, die eher von einem malerischen oder einem skulpturalen Denken geleitet sind.
Zeichnen mit dem Raum heißt Einbeziehung des Raumes oder der Funktion eines Raumes in eine Arbeit, die von zeichnerischem Denken geprägt ist. Das Ergebnis zeigt sich an Wänden, Decken, Böden oder in der Durchdringung des gesamten Raumes oder des Außenraumes. Es geht mir nicht um abgeschlossene, hermetische Arbeiten an einer Wand oder einem Wandteil, die sogenannten »wallpaintings«, sondern um solcherlei Arbeiten, in denen zusätzlich die Umgebung auf verschiedenartige Weise in das Ergebnis eingebunden ist. Die Zeichnung im Raum muß nicht auf eine tastbare Körperlichkeit verzichten, die das Werk zu einem wirklich plastisch-räumlichen macht; sie kann aber auch durch die Immaterialität des Lichts gebildet werden.
Zeichnungen mit dem Raum haben, wie oben erwähnt, eine bestimmte Art zu denken zur Voraussetzung. Dieses Denken kann selbstverständlich nicht dogmatisch festgelegt werden. Es ist jedoch möglich, einige Komponenten zeichnerischen Denkens zu benennen.
Zunächst ist es die ›Prozeßhaftigkeit‹, die in den Arbeiten sichtbar bleibt. Die technische Umsetzung ist nahezu ablesbar, wird nachvollziehbar. Außerdem spielt der Prozeß des Betrachtens eine wesentliche Rolle bei der Erfassung des Kunstwerkes, d.h. es besteht aus einzelnen Teilen, die durch den Betrachter zusammengefügt werden.
Zu dieser Prozeßhaftigkeit gesellt sich gleichzeitig die Komponente einer visuellen Offenheit hinzu. Die Arbeiten sind nicht abgeschlossen oder hermetisch. Ihre visuelle Grundlage sind Linien und lineare Strukturen. Die Linie schwankt zwischen sinnlicher Beschreibung eines Gegenstandes und der daraus erwachsenden abstrakten Erkenntnis. Derartig rein grafische Linien repräsentierten früher eine allgemeingültige Form, die von allem unnötigen Beiwerk oder Einzelheiten gereinigt war, auf welche die sinnliche Wahrnehmung der Gegenstände sonst stößt. Heute kann man nicht mehr von der Gültigkeit der Reinheit der Linie sprechen. Sie ist gebrochen. Ihre lineare Struktur oszilliert zwischen präziser Schärfe und Offenheit.
Ein weiteres Merkmal zeichnerischen Denkens ist eine ›musikalische Komponente‹. Sie wird im Zusammenspiel von Form und Raum wirksam, das oft eigene charakteristische Klänge stimuliert. Das ›Prozessuale im Verlauf der Zeit‹ läßt sich auch bei einigen Arbeiten, in denen die Veränderung des natürlichen Lichtes eine Rolle spielt, beobachten.
Im folgenden werden einige unterschiedliche Herangehensweisen und Möglichkeiten von »Zeichnen mit dem Raum« vorgestellt. Die Auswahl der Künstler ist subjektiv getroffen. Es sind Künstler, die für meine Arbeits- und Denkweise anregend waren. Die Ergebnisse sind unterschiedlich, da ›Raum‹ immer unterschiedlich wahrgenommen wird.


Linie – Schnitt – Raum

Der amerikanische Bildhauer und Architekt Gordon Matta-Clark (1945–1978) übertrug neben den Schnitt-Zeichnungen, den »cut drawings« (ab 1972) sein zeichnerisches Denken auf ortsspezifische Eingriffe in den realen Raum. Er schnitt Linien in Gebäude oder Gebäudeteile oder schnitt sogar ganze Segmente (z.B. Datum, Schnitte, 1973, Genua) aus diesen aus. So sehr er dabei Bildhauer und Architekt blieb, so sehr fußte sein Vorgehen auf zeichnerischem Denken. Seine Schnitte ins Gebäude sind immer grafische Linien. Dabei geht es nicht um die Teilung in mehrere skulpturale Restformen, sondern immer um das Schneiden, die Handlung an sich, und den vollzogenen Schnitt, die Verletzung – inklusive der Begehung durch die Besucher und die damit verbundenen Gefahrenmomente. Das Auge des Betrachters sieht nicht die Reststücke als skulpturale Formen, sondern den Schnitt und die verschiedenartigen Durchsichten. Das Durchbrechen und Offenlegen verschiedener Schichten, die die Uneindeutigkeit der einen Form dokumentieren, sind kennzeichnend für Clarks Arbeiten. So decken seine Linien die relative Unbestimmtheit der Form auf.1
Das Gegenbeispiel zu diesem Vorgehen läßt sich im Ansatz von Richard Serra (geb. 1939) finden, der in seinen Zeichnungen wie in seinen Skulpturen einen malerisch-skulpturalen Denkansatz, jedoch kein zeichnerisches Denken verwirklicht. Bei einer Teilung aus seiner Hand entstehen immer zwei massive skulpturale Restformen, die den Blick der Betrachter auf sich ziehen. Der Akt der Teilung oder der entstehende Schnitt ist zweitrangig. Auch seine mit schweren Ölkreiden aufgetragenen Zeichnungen, die u.a. auch in der Ausstellung »Zeichnen ist eine andere Form von Sprache«2 zu sehen waren, bewegen sich am Rande der Gattung Zeichnung, obwohl sie auf deren klassischem Träger, dem Papier, entstanden sind.


Architektur als Zeichnung

In ganz anderem Sinne ›zeichnet‹ der Architekt Daniel Libeskind (geb. 1946) mit dem Raum: Seine realisierten Architekturen – wie z.B. das Jüdische Museum in Berlin – sind, vor allem aus der Luftperspektive gesehen (City edge, 1987, Aleph, 1987), architektonisch umgesetzte Zeichnungen. Die Zeichnungen werden zur Voraussetzung für den Raum und nicht umgekehrt. Das Zeichnerische hat Vorrang vor dem Funktionalen. Der Raum wird zum Handwerkszeug einer Umsetzung von Ideen. In seinem Vortrag »Between the lines«3 aus dem Jahre 1989 führt der Architekt ein hexagonales Liniensystem, den unvollendeten dritten Akt der Schönberg-Oper Moses und Aron sowie die ›textuelle‹ Dimension als die drei wesentlichen Faktoren des Projektes Jüdisches Museum an. Alle Dimensionen sind unmittelbar erlebbar.
Das entstandene Gebäude vermittelt trotz der Massivität des Betons durch die linearen Fensteröffnungen und den dadurch gelenkten Einfall des Lichts eine große Transparenz und Offenheit. Der Besucher bewegt sich in einer raumgewordenen Zeichnung.


Zeichnung mit dem Außenraum

Im Bereich der Land Art und der Installationen im Außenraum dominieren die skulpturalen Arbeiten; nur wenige Arbeiten begreife ich als Zeichnungen mit dem Raum. Unter diese fallen solche wie z.B. das Projekt Running Fence (1972-1976) von Christo (geb. 1935). Ein orangefarbenes Nylongewebe zieht sich auf einer Länge von 40 km durch Kalifornien zum Pazifik hin. Es wirkt in dieser riesigen Umgebung wie eine organische Linie, die sich an die Landschaft schmiegt. Sie ist transparent, offen, und gliedert die Landschaft kongenial.
Auch das Las Vegas Piece (1969) von Walter de Maria (geb. 1935), eine einzige Linie von 4,8 km Länge in der Wüste von Tula in Nevada steht vollständig in Beziehung zum Umraum, den sie buchstäblich um sich bannt. Sie gliedert ihn und hält ihn gleichzeitig.
Interessanterweise erweist sich bei manchen Außenarbeiten Richard Longs (geb. 1945), wie z.B. bei der Arbeit Circle in the Andes aus dem Jahre 1972, daß sie letztlich eine zweidimensionale Zeichnung in einem dreidimensionalen Raum sind. Der Untergrund bildet die Fläche für den Kreis aus verschiedenen Steinen, der sich jedoch gegenüber dem Restraum sehr hermetisch verhält und mit der faszinierenden Kulisse der Berge im Hintergrund keine echte Verbindung eingeht. Es ist die Setzung eines Zeichens in einen fremden Raum, jedoch keine Zeichnung mit dem Raum.


Soziale Funktion des Lebensraums als Voraussetzung zur künstlerischen Untersuchung

Die Künstlerin Andrea Pichl (geb. 1964) arbeitet mit der sozialen Funktion des Raumes. Sie nimmt Informationen über ihn zum Anlaß, den Ort zu verändern und in ihn einzugreifen. Dies erfolgt z.B. in der ständigen Arbeit 3/610 Raumkorrektur (1998) in der »gelben Musik«, einem Laden für zeitgenössische Musik in Berlin. Aufgrund der Information, daß einige Komponisten mit der Fibonacci-Folge arbeiteten, zeichnete die Künstlerin 1998 mit Graphit auf Boden, Wand und Decke die neuen Maße des Raumes nach eben dieser Fibonacci-Folge ein. Es entstand eine kontextbezogene Zeichnung mit dem Raum, obwohl sie streng genommen nicht mit dem Raum, sondern nach der mathematischen Regel erarbeitet wurde.
In einer anderen Arbeit zeichnete die Künstlerin das eigene Gehen in ihrer Wohnung innerhalb einer Zeitspanne von zwei Stunden auf. Die Zeichnung erfolgt hier als seismographisches Erfassen, zeitliche Schichtungen werden übereinander gezeichnet. Auch hier wird im übertragenen Sinne »mit dem Raum«, nämlich mit seiner sozialen Begegnungsmöglichkeit, gearbeitet.


Mit dem Raum gegen den Raum

Claude Horstmann (geb. 1960) zeichnet nicht nur mit, sondern »mit dem Raum gegen den Raum«. Räumliche Strukturen werden von ihr mit Tusche aufgezeichnet, Teile der Zeichnungen auf Transparentfolien vergrößert, diese wiederum mit Tusche eingefärbt und als einzelne Formen ausgeschnitten. Danach werden sie auf Wänden der Ausstellungsräume angeordnet. Die Zeichnung dient hier zur Brechung der Identifikation des Raumes. Die applizierte zeichnerische und zugleich extrem skulptural wirkende Form verleugnet die Wand als flächigen Untergrund in starkem Maße. Die Zeichnung dient zum Herstellen neuer Räume, die aber in ihrer Größe schwer festzulegen sind. Es entstehen völlig verschiedene Dimensionen des Räumlichen und dies mittels relativ abstrakter applizierter Zeichen auf Folie. Mit ihren Raumzeichnungen stellt Claude Horstmann den Raumbegriff selbst in Frage.


Präzision und Offenheit

Was meine eigene Arbeitsweise betrifft, möchte ich zunächst von verschiedenen Erfahrungen berichten, die zur Herausbildung der Prämissen für meine Auffassung von der »Zeichnung im Raum« geführt haben.
Während meines Studienaufenthaltes in der VR China von 1983 bis 1986 habe ich die Natur der Linie u.a. anhand der klassischen chinesischen Kalligraphie und der Kalligraphiegeschichte studiert. Das Verhältnis von Schwarz und Weiß innerhalb des einzelnen Zeichens wie auch das Verhältnis der Zeichen untereinander, das ein grafisches wie ein räumliches ist, war Gegenstand des Studiums. Das Erarbeiten der geistigen Spannung beim Ziehen der Linie war jedoch genauso wichtig. Die Linie jedes einzelnen Zeichens agiert im Raum, das Zeichen selbst schafft Raum, ebenso wie die Abfolge der Zeichen untereinander innerhalb des gesamten Ablaufs. Das eigene Denken schlägt sich unkorrigierbar und direkt auf dem Papier nieder.
Gleichzeitig entwickelt sich beim Schreiben ein eigener persönlicher Rhythmus. Das gesamte Blatt hat – über die Schrift – eine Form und eine Angebundenheit im Inhalt. Darüber hinaus entwickelt sich eine eigene Dramaturgie, eine Partitur des Schreibens. Diese Setzung geht jedoch weit über das bloße Niederschreiben eines Textes hinaus und ist eindeutig ein künstlerischer Akt. Faszinierend ist für mich die durch die Praxis bestätigte Aussage des Kalligraphen Wang Dongling, daß für den Kalligraphen die Geschwindigkeit innerlich hörbar ist, mit der er den Pinsel führen muß (»Sie werden hören, wie schnell Sie schreiben müssen«5). Neben der Technik entwickelt sich ein Gefühl für die Präzision der Setzung auf dem Blatt und im Raum. Diese Erfahrungen finden in meinen raumbezogenen Arbeiten im europäischen Kontext Anwendung.
Neben der chinesischen Kalligraphie prägen auch die Erfahrungen mit großen Landschaftsräumen meine Arbeit. Das Reisen durch weite Landschaften im Nordwesten Chinas oder auch im Westen der USA, besonders durch Steppen- und Wüstengebiete, vermittelte die Erfahrung von Transparenz, Ausdehnung und Größe und machte gleichzeitig die eigene Relativität deutlich. Geringe geographische oder farbliche Unterschiede können den gesamten Charakter der Landschaft verändern, selbst wenn sich diese Veränderungen sehr langsam über große Ausdehnungen erstrecken. Manche Landschaften weisen damit starke zeichnerisch-grafische Näherungswerte auf. Die Wüstenregionen in China, den USA, Peru oder auch Ägypten zeigten mir, daß es möglich ist, einen ›großen‹ Raum mit relativ geringfügigen, jedoch präzisen Eingriffen entscheidend zu strukturieren.
Auch in der zeitgenössischen Musik liegen für mich Vorgehensweisen, die Ähnlichkeiten und Affinitäten zu Komponenten zeichnerischen Denkens aufweisen. So finden sich im nicht-linearen Komponieren, dem Arbeiten mit Fragmenten und Kompositionspartikeln, die zu höchst komplexen Gebilden überlagert sind, durchaus kompatible Verfahrensweisen, die meine eigenen Arbeitsmöglichkeiten bereichern und erweitern. Dazu zählen die Kompositionen Brian Ferneyhoughs genauso wie die unterschiedlichen Ansätze John Cages oder Luigi Nonos zur Einbeziehung der Pause oder Stille in die Komposition oder die Öffnung der musikalischen Skala zu Vierteltönen oder Alltagsgeräuschen. Faszinierend ist für mich die Freiheit der Möglichkeiten bei Cage, genauso wie das tiefe kulturelle Ethos bei Nono, dessen Auffächerung in dynamische und tonale Grenzbereiche neue Räume eröffnet. Auch die ›Langsamkeit‹ Morton Feldmans, der die konventionelle Form sprengt und durch die Dehnung der Zeit in neue Bereiche des Hörens vordringt, ist zu nennen.
Was meine Arbeiten im Innen- und Außenraum betrifft, so gehe ich von folgenden Voraussetzungen aus: Ich platziere weder eine vorgefertigte Arbeit noch eine von außen kommende Idee. Ich vollziehe auch keine Setzung einer Behauptung. Für mich sind das Hineinhören in die und das Erfassen der Charakteristik eines Raumes die entscheidenden Voraussetzungen zu seiner Bearbeitung. Mit wenigen grafischen Mitteln wird die Arbeit im Raum strukturiert. Die Materialien der grafischen Komponenten der Arbeiten sind ganz unterschiedlich; sie reichen von der Plastizität eines Schiffsseils bis zu Fräsungen oder Lichtspuren. Die Eingriffe lassen die im Raum liegenden Eigenschaften zutage treten, ohne ihn zu dominieren, eher wird der Charakter des Raumes vervollständigt und zusätzlich erweitert und in Schwingung versetzt. Dem Betrachter stehen unterschiedliche Denk- und Interpretationsmöglichkeiten offen. Die Arbeiten sind transparent und präzise. Fast ist es so, als hätte der neue Zustand vorher schon bestanden. Gleichzeitig erfahren einige Arbeiten durch die bewußte Einbeziehung des natürlichen Lichtes einen Ausdruckswandel in der Zeit. Sie erfüllen sich erst mit dem Vollzug durch den Betrachter in der Zeit.
Ein Beispiel hierfür ist die Arbeit Offener Raum, 1997, in Wiepersdorf/Brandenburg entstanden. Der stark für sich sprechende ehemalige Lagerraum wurde mit wenigen gezielten Veränderungen und Eingriffen – Fräsungen, Malerei und plastische Elemente (Stahlseil, Schnur und Armierungseisen) – aus seiner Balance gebracht und in ruhige Schwingung versetzt. Diese Eingriffe wurden mit dem zeitlichen Verlauf des natürlichen Lichts, das von morgens bis zum Spätnachmittag durch den Raum wanderte, und den entsprechenden Schattenwürfen in Korrespondenz gesetzt. Der ganze Raum wurde so zu einer in den dreidimensionalen Raum gesetzten plastischen Zeichnung, deren einzelne Fragmente sich jedoch erst durch das Umhergehen des Betrachters zu einer komplexen zeitlichen ›Komposition‹ im Raum verbanden, ohne eine völlige Geschlossenheit erreichen zu wollen. Gerade die Möglichkeit mehrerer Lösungen im Sinne des Kybernetikers Heinz von Foerster macht – trotz präziser Vorgaben – die Freiheit des Betrachters zu neuem Denken und Erleben aus.
Eine andere Struktur weist die Installation Zwei Geschichten über die Zeit, 1996, in Brandts Klædefabrik in Odense/Dänemark auf. In ihr ergibt die Kombination unterschiedlich bearbeiteter Wandflächen im Bezug zu einem plastisch-grafischen ›Aggregat‹ (einem Kubus) die eigentliche Arbeit, die einer komplexen Ausformung von ›Zeichnung‹ entspricht. Auf den vier Seiten des Kubus aus MDF-Platten sind horizontale Linienformationen unterschiedlich tief eingefräst. Die dem Kubus gegenüberstehenden Wände sind einmal mit Schnur strukturiert, einmal gefräst, weitere Wände sind durch gemalte Lineaturen gegliedert. Dem inneren Rhythmus der einzelnen Teile entspricht eine Aufladung des leeren Zwischenraumes durch gegenseitiges Kommunizieren. Beim Durchgehen entsteht ein komplexes Gerüst aus Raumzeichen verschiedener, den architektonischen Raum gliedernder und aufeinander reagierender Komponenten, deren Interaktion durch den Einfall des natürlichen Lichts noch verstärkt wird.
Auch die Arbeit Wald – Feld, 1996 im Wiepersdorfer Forst, Brandenburg, kann als dreidimensionale Zeichnung mit dem Raum bezeichnet werden. Die Intention der Arbeit galt nicht nur einer Verbindung von Wald und Feld mittels 50 m langen Seilen, sondern zielte insbesondere auf die Art der Verbindung und die dadurch geschaffene Vielfältigkeit der Verknüpfung. Besonders der Eintrittswinkel der rot pigmentierten Seile und ihr weiterer Verlauf im Feld war von fundamentaler inhaltlicher Bedeutung. Neben dem Beziehungsgeflecht zwischen den verschiedenen Ebenen Wald – Feld veränderte das wechselnde Licht die verschiedenen Ansichten und brachte wiederum unterschiedliche Facetten der Arbeit hervor.
Im urbanen Raum entstand die Arbeit Wüste fegen, 1995, auf einem Baugrundstück in der neuen Mitte Berlins. Hierbei entstand – auf einer von Wohnblocks umgebenen Baufläche – eine ruhige Zeichnung auf einer von mir neun Tage lang gefegten und gereinigten Grundfläche von 60 x 40 m. Vier schmale Gräben rhythmisierten die Fläche und versetzten sie in Bewegung – eine intensive Zeichnung, die über ihre Grenzen hinweg ausstrahlte.

Diese Beispiele zeigen, daß der Begriff der Zeichnung sehr wohl in den Raum erweiterbar ist. Allerdings bedarf es dazu eines ›zeichnerischen Denkens‹, das auch unkonventionelle Materialien und Techniken mit einbezieht.


Anmerkungen
Siehe auch den Aufsatz von Pamela M. Lee, »Dazwischenzeichnen«, in: S. Breitwieser (Hrsg.), Reorganizing Structure by drawing through it. Zeichnung bei Gordon Matta-Clark, S.21, Generali Foundation, Wien1997
Ausstellung u.a. in der Akademie der Künste, Berlin, vom 19.2.–25.4.1999, mit Symposion und Vorträgen
»Daniel Libeskind. Between the Lines«, in: A. Stepken (Hrsg.), Daniel Libeskind. Kein Ort an seiner Stelle, S.76–88, Verlag der Kunst, Dresden1995
Sehr gute (chinesische) Kalligraphen denken weiß und schreiben schwarz, d.h., sie denken den Umraum beim Schreiben mit.
Wang Dongling (1945*), Professor für Kalligraphie an der Chinesischen Akademie der schönen Künste, Hangzhou, VR China


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Frei wie ein Vogel
, 2000
Auszug aus: Knut Ebeling, Tagesspiegel, Berlin, Frei wie ein Vogel, 15.09.2000 zur
Einzelausstellung, Adjustment, 2000, Galerie am Prater, Berlin

„...mit seiner systematischen Vogelperspektive stellt Schmid die dringende Frage nach dem Zustandekommen und der Verfasstheit von Räumlichkeit: Was sind Räume? Wie werden sie gemacht? Und was hat das mit uns zu tun?
Eine zentrale Antwort Schmids könnte lauten: Wir bewegen uns nicht in vorgefertigten Räumen, die mit uns nichts zu tun haben, sondern die Räume produzieren selbst die Verhaltensweisen, mit denen wir in ihnen handeln.“


Eröffnungsrede zur Einzelausstellung Adjustment
, 2000
Auszüge aus: Kathrin Bettina-Müller, Eröffnungsrede zur Einzelausstellung, Adjustment, 2000, Pratergalerie, Berlin

„Wir haben bestimmte Erwartungen, wie ein Kunstwerk sich zum Raum, in dem wir es aufsuchen, verhält. Wir erwarten eine deutliche Begrenzung von allem übrigen, eine visuell wahrnehmbare Trennung der Wirklichkeit des Werkes von der Wirklichkeit, in der wir uns selbst befinden. Diese Trennung aufzuheben und so den Raum der Kunst zu unserem eigenen Erfahrungsraum zu machen: daran arbeitet Andreas Schmid mit seinen Installationen...# weiterlesen ...

Räume tragen Benutzerhinweise in sich. Türen und Fenster geben uns Bewegungsrichtungen vor, Höhe und Tiefe bestimmen die Nutzbarkeit. Aber die Architektur von rechten Winkeln und geschlossenen Grundrissen nutzt nur ein kleines Segment dessen, was Raum sein könnte und der vielen Richtungen, die er in sich birgt. Die Linien, die Andreas Schmid in den Raum bringt, machen Vorschläge: gegen die eingeschliffene Wahrnehmung des Raums, gegen das Einseitige der gewohnten Nutzung und die Normierung unserer Interpretation.
Durch diese Eingriffe liest man auch das schon vorhandene Inventar von Linien anders. Steckdosen, Mauer – Vorsprünge und über Putz verlegte Leitungen werden zu Elementen der Raumzeichnung. Hier wird nichts geschönt oder versteckt, nichts dargestellt oder simuliert sondern das Vorhandene zur Kenntlichkeit gebracht.
Doch es geht bei den Linien im Raum nicht nur um diesen selbst...
Als ob sie den Raum flach aufklappen könnten, benutzen sie ihn wie ein Blatt... So können die Linien je nach Standpunkt, Ecken und Kanten negieren und sich mit perspektivischen Täuschungen darüber hinwegsetzen. Dann werden die Linien zum Beginn einer Form, zur Teilung der Fläche, zum Anfang von etwas...
Betrachtet man die Raumarbeiten von Andreas Schmid als choreographische Anleitungen, dann sind wir die Tänzer. Wir müssen uns in diesem begehbaren Bild bewegen, erst dann wird es erfüllt. Dann ist die Wirklichkeit des Kunstwerks nicht von unserer zu trennen. Wir teilen uns mit ihm den gleichen Raum. Realraum und Illusionsraum verschränken sich.“

„..Die Linien, die Andreas Schmid in den Raum bringt, machen Vorschläge: gegen die eingeschliffene Wahrnehmung des Raums, gegen das Einseitige der gewohnten Nutzung und die Normierung unserer Interpretation…
So stellt er in seinen Arbeiten keine objektiven Behauptungen auf von dem, was Kunst ist, sondern belässt das im Konjunktiv: was sie möglicherweise sein könnte“.


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Eröffnungsrede zur Einzelausstellung, Andreas Schmid - Neue Arbeiten
, 1997
Auszug aus: Michael Freitag, Eröffnungsrede zur Einzelausstellung, Andreas Schmid - Neue Arbeiten, Schloß Wiepersdorf, Brandenburg, 13.09.1997

„...man stand nicht vor, sondern in einer Skulptur, die nichts brauchte als Licht, die nichts von ihrem Ausgangspunkt verbarg und doch plötzlich aufgeladen schien von Möglichkeiten, von Ideen, von Energien... Konzentration auf die innere Raumverfassung führte zu einem Ergebnis, das den Ort zur Kenntlichkeit veränderte, das den Besucher in der Bewegung verunsichert und ihn dadurch in den Stand setzt, die Gegebenheiten als grafische und plastische Strukturen zu betrachten, und zu fühlen, auszulesen, wovon er ohne die Schmidschen Linienzüge und Farbangaben nichts wahrgenommen hätte.“